Zu einer Zeit weilte der Erhabene bei Savatthi im Jeta-Hain, im Garten Anathapindikas. Dort nun wandte sich der ehrwürdige Shariputra an die Mönche: »Ihr Mönche« — »O Freund«, erwiderten die Mönche ehrerbietig.
Der ehrwürdige Shariputra sprach: »Wie kann ein edler Schüler oder eine edle Schülerin Rechte Anschauung entwickeln, eine Anschauung von ehrenwerter Art? Wie gewinnt er oder sie unerschütterliches Vertrauen in das Dharma? Wie kann er oder sie sich das wahre Dharma erschließen?«
»Freund Shariputra, wir sind von weit hergekommen, um in Eurer Nähe zu sein. Wir wollen gern die Bedeutung Eurer Worte erfahren. Bitte klärt uns auf. Wir werden Eure Lehre in unserem Geist bewahren, wenn wir sie vernommen haben.«
»So hört denn, ihr Freunde, und achtet wohl auf meine Rede!
Wer das Unheilsame und die Wurzeln des Unheilsamen erkennt, wer das Heilsame und die Wurzeln des Heilsamen erkennt, der hat Rechte Anschauung, dessen Anschauung ist von ehrenwerter Art.
Ein solcher Mensch hat unerschütterliches Vertrauen in das Dharma gewonnen, einem solchen Menschen hat sich das wahre Dharma voll und ganz erschlossen.
Wer Leben zerstört, Nicht-Gegebenes nimmt und sexuelles Fehlverhalten übt, der handelt unheilsam. Wer lügt, Verleumder, barsche Worte gebraucht und geschwätzig redet, der handelt unheilsam. Wer habsüchtig ist, anderen übel will und falsche Ansichten hat, der handelt unheilsam. Die Wurzeln des Unheilsamen sind Gier, Hass und Verblendung,
Wer kein Leben zerstört, Nicht-Gegebenes nicht nimmt und kein sexuelles Fehlverhalten übt, der handelt heilsam. Wer nicht lügt, nicht verleumdet, keine falschen Worte gebraucht und nicht geschwätzig redet, der handelt heilsam. Wer nicht habsüchtig ist, anderen nicht übel will und Rechte Anschauung praktiziert, der handelt heilsam. Die Wurzeln des Heilsamen sind das Nicht-Vorhandensein von Gier, Hass und Verblendung.
Wer das Unheilsame und seine Wurzeln erkennt, wer das Heilsame und seine Wurzeln erkennt, der kann seine Neigung zu Gier völlig transformieren, kann seine Neigung zu Hass ablegen und die Vorstellung, dass da ein »Ich« existiere, überwinden.
Ein solcher Mensch verwandelt Verblendung in wahres Verstehen und setzt dem Leiden ein Ende – hier und jetzt in diesem Leben.«
»Wohl gesprochen«, sagten die Mönche erfreut und fragten: »Gibt es vielleicht noch andere Möglichkeiten, Rechte Anschauung zu gewinnen?«
»Freilich, ihr Freunde. Wer die Nahrung erkennt, das Entstehen der Nahrung, das Vergehen der Nahrung und den zum Vergehen der Nahrung führenden Pfad, der hat Rechte Anschauung.
Es gibt vier Arten von Nahrung, welche die schon vorhandenen und die noch eine neue Existenz suchenden Wesen kräftigen: Da ist die essbare Nahrung, grob oder fein; die Nahrung der Sinneseindrücke; die Nahrung der Tatabsichten und die Nahrung des Bewusstseins.
Nahrung entsteht, wo Begehren entsteht. Nahrung vergeht, wo Begehren vergeht. Der Pfad, der zum Vergehen von Nahrung führt, ist der Edle Achtfache Pfad. Wer dies erkennt, transformiert seine Neigung zu Gier, Hass und Verblendung.
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung. Wer das Leiden erkennt, die Ursachen des Leidens, die Aufhebung des Leidens und den zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad, der hat Rechte Anschauung. Geburt, Alter, Krankheit, Tod, Kummer, Jammer, Schmerz, Unzufriedenheit und Aufgeregtheit sind Leiden. Kurz gesagt: Den Fünf Skandhas verhaftet sein ist Leiden.
Es ist der mit sinnlichem Genuss und sinnlichem Anhaften verbundene Durst nach Geburt und Wiedergeburt, der Leiden entstehen lässt, der Durst nach der Sinnenwelt, nach der Welt des Seins und der Welt des Nicht-Seins.
Leiden hat ein Ende, wenn Begehren endet, wenn Vorstellungen aufgehoben werden, wenn das Objekt der Begehrlichkeit losgelassen wird, wenn der Mensch sich von ihm befreit und ihm nicht länger verhaftet ist. Der zur Aufhebung des Leidens führend Pfad ist der Edle Achtfache Pfad.
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer Alter und Tod erkennt, das Entstehen von Alter und Tod, die Aufhebung von Alter und Tod und den zur Aufhebung von Alter und Tod führenden Pfad, der hat Rechte Anschauung.
Alter ist das Hinfälligwerden der Wesen in den verschiedenen belebten Welten. Die Zähne werden schlecht, die Haare werden grau, die Haut bekommt Runzeln, die Lebenskraft lässt nach, die Sinnesorgane werden schwach.
Tod ist das Dahinschwinden der in den verschiedenen belebten Welten lebenden Wesen und ihr Übergang in andere Existenzen, ihr Verwesen, ihr Verschwinden, ihr Vergehen. Tod bedeutet Vollendung der Lebenszeit, Zerfall der Skandhas und das Ablegen des Körpers. Alter und Tod entstehen, wo Geburt endet. Der zur Aufhebung von Alter und Tod führende Pfad ist der Edle Achtfache Pfad.
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer Geburt erkennt, das Entstehen von Geburt …, der hat Rechte Anschauung. Geburt ist das Entstehen von Wesen in den verschiedenen belebten Welten, ihr Erscheinen, ihre Wiedergeburt, das Manifest werden der Skandhas und das Entstehen von Sinnesorganen und Sinnesobjekten. Geburt entsteht, wo Werden entsteht. Geburt endet, wo Werden endet. Der zur Aufhebung von Geburt führende Pfad ist der Edle Achtfache Pfad.
Und dies ist eine weitere Lehre über Rechte Anschauung:
Wer Werden erkennt …, der hat Rechte Anschauung. Es gibt drei Arten von Werden: Das Werden der Sinnenwelt, das Werden der feinkörperlichen Welt und das Werden der unkörperlichen Welt. Werden entsteht, wo Anhaftung entsteht. Werden endet, wo Anhaftung endet …
Und dies ist eine weitere Lehre über Rechte Anschauung:
Wer das Anhaften erkennt, der hat Rechte Anschauung. Es gibt vier Arten von Anhaften: Das Anhaften an Sinneslust, das Anhaften an Ansichten, das Anhaften an Regeln und Riten und den Glauben an ein eigenständiges Selbst. Anhaften entsteht, wo Durst entsteht. Anhaften endet, wo Durst endet. Der zur Aufhebung von Anhaftung führende Pfad ist der Edle Achtfache Pfad.
Und dies ist eine weitere Lehre über Rechte Anschauung:
Wer den Durst erkennt …, der hat Rechte Anschauung. Es gibt sechs Arten von Durst: Durst nach Form, Klang, Geruch, Geschmack, Tastbarem und Geistesobjekten. Durst entsteht, wo Gefühle entstehen. Durst endet, wo Gefühle enden …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer die Empfindungen (Gefühle) erkennt … der hat Rechte Anschauung. Es gibt sechs Arten von Empfindungen: Empfindungen, die aus Sehkontakt, Hörkontakt, Riechkontakt, Schmeckkontakt, Tastkontakt und Denkkontakt entstehen. Empfindungen entstehen, wo Kontakt (Berührung) entsteht. Empfindungen enden, wo Kontakt endet …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer den Kontakt erkennt … der hat Rechte Anschauung. Es gibt sechs Arten von Kontakt: Sehkontakt, Hörkontakt, Riechkontakt, Schmeckkontakt, Tastkontakt und Denkkontakt. Kontakt entsteht, wo die sechs Sinnestore sich öffnen. Kontakt endet, wo die sechs Sinnestore sich schließen …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer die sechs Sinnestore erkennt … der hat Rechte Anschauung. Die sechs Sinnestore sind: Das Tor der Augen, das Tor der Ohren, das Tor der Nase, das Tor der Zunge, das Tor des Körpers und das Tor des Geistes. Die sechs Sinnestore öffnen sich, wo Geistiges und Körperliches entsteht. Die sechs Sinnestore schließen sich, wo Geistiges und Körperliches endet …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer Geistiges und Körperliches erkennt … der hat Rechte Anschauung. Geistige Komponenten sind: Gefühle, Wahrnehmungen, Tatabsichten (Wollen), Kontakt (Berührung) und geistiges Aufmerken. Körperliche Komponenten sind die Vier Großen Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer) und die daraus resultierenden Formen. Geistiges und Körperliches entsteht, wo Bewusstsein entsteht. Geistiges und Körperliches endet, wo Bewusstsein endet …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer Bewusstsein erkennt … der hat Rechte Anschauung. Es gibt sechs Arten von Bewusstsein: Sehbewusstsein, Hörbewusstsein, Riechbewusstsein, Schmeckbewusstsein, Tastbewusstsein und Geistbewusstsein. Bewusstsein beginnt, wo Impulse entstehen. Bewusstsein endet, wo Impulse enden …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer die Impulse erkennt … der hat Rechte Anschauung. Es gibt drei Arten von Impulsen: Körperliche, sprachliche und geistige. Impulse entstehen, wo Unwissenheit entsteht. Impulse enden, wo Unwissenheit endet …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer Unwissenheit erkennt … der hat Rechte Anschauung. Unwissenheit ist das Unvermögen, das Leiden zu erkennen, die Ursachen des Leidens, die Aufhebung des Leidens und den zur Aufhebung des Leidens führenden Pfad. Unwissenheit entsteht, wo verblendende Einflüsse entstehen. Unwissenheit endet, wo verblendende Einflüsse enden …
Und dies ist eine weitere Lehre über die Rechte Anschauung:
Wer verblendende Einflüsse erkennt … der hat Rechte Anschauung. Es gibt drei Arten von verblendenden Einflüssen: Den Einfluss sinnlicher Begierde, den Einfluss des Daseinstriebes und den Einfluss der Unwissenheit. Die drei Arten von verblendenden Einflüssen entstehen, wo Unwissenheit entsteht. Die verblendenden Einflüsse enden, wo Unwissenheit endet …«
Majjhima Nikaya 9 –
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Quellen
Auf Deutsch ist die obige Übersetzung von Zen Meister Thich Nhat Hanh veröffentlicht im folgenden Buch:
